Saturday, November 20, 2004

Konzertrezension: Ein paar Gedanken zum Musical „Anatevka“ anlässlich eines Besuches einer Aufführung in der Bonner Oper am 20.11.2004

Ein paar Gedanken zum Musical „Anatevka“ anlässlich eines Besuches einer Aufführung in der Bonner Oper am 20.11.2004


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Meine Frau schleppte mich mal wieder in die Oper, was nicht so sehr häufig vorkommt, und immer ein wenig wie ein Staatsakt anmutet, denn ich soll mich dann immer irgendwie festlicher kleiden, obwohl ich doch nur Zuschauer bin und kein Repräsentant oder Darsteller auf der Bühne. Egal, diesmal war „Anatevka“ angesagt, ein Musical, das ich schon als Kind im Fernsehen gesehen habe, wobei ich mich auch noch an Szenen erinnerte, vor allem an das Lied „Wenn ich einmal reich wär“, aber der Inhalt des Musicals war mir nicht mehr geläufig. Und siehe da, es ist eine überaus spannende Geschichte um ethnische und religiöse Identität, Tradition und Moderne, Fremdenhass und Migration. Tevje, ein kleiner Bauer und Händler, lebt mit Frau und fünf Töchtern in dem russischen Dorf Anatevka irgendwann in der Endphase des Zarenreiches. Die jüdische Gemeinde lebt streng nach den Vorschriften und Gewohnheiten der Tradition, deren Ursprünge sich dem historischen Bewusstsein entziehen. Ohne diese Tradition wäre die kollektive ethnisch-religiöse Identität als jüdische Minderheit nicht zu bewahren gewesen, man würde die Sicherheit verlieren und gefährdet sein, wie ein Geiger auf dem Dach, der jederzeit herunter fallen kann. Nun aber brechen drei der Töchter mit der Tradition und bestehen darauf, sich ihren Ehemann selbst auszuwählen. Die erste wählt einen armen jüdischen Schneider, die zweite einen jüdischen sozialrevolutionären Gelehrten. Beide Male ringt Tevje mit zwei Kräften, seiner Traditionstreue und seiner Liebe zu seinen Töchtern, wägt im Gebet zu Gott das Einer- und das Andererseits ab und entscheidet in beiden Fällen, die Liebesheirat zu erlauben und seinen Segen zu geben. Als die dritte Tochter aber einen nichtjüdischen Intellektuellen heiraten möchte, zerbricht er innerlich daran und kann es nicht erlauben. Während der Hochzeit der ältesten Tochter mit dem Schneider greift ein Schlägertrupp an und verprügelt die Hochzeitsgesellschaft, ein Ereignis, das ein Vorbote der Vertreibung der Juden aus dem Dorf ist. Während sie ihre Habseligkeiten zusammen packen, um nach Amerika oder sonst wohin auszuwandern, überwindet sich Tevje doch noch, und wünscht der Tochter und ihrem nichtjüdischen Mann Gottes Schutz.
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass so mancher türkisch-muslimischer Vater ähnliche Probleme wälzt, wenn seine Tochter einen ethnisch und religiös anders sozialisierten Freund hat. Und all die Geschichten von Vertreibung aus der Heimat, egal wen es trifft, ob Iren oder Juden, Deutsche oder Polen, Vietnamesen oder Somalier kamen mir in den Sinn. Die Iren und die Juden haben die Thematik in ihre Musik sehr intensiv aufgearbeitet, so dass aus der Tragik Ästhetik wurde. Auch in dem Musical kam jiddische Volksmusik neben der typischen Operettenmusik vor, was es für mich noch mal interessanter machte. Jedenfalls war das ein sehr ergiebiger Opernbesuch.

Vgl. auch http://home.t-online.de/home/realschule.linz.rhein/schulleb/musical.htm
http://www.musicals-unlimited.de/anatevka/premiere.html

MAS